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Bruderschaften: Sie gedenken der Toten - und feiern das Leben!
Von Peter Steiner
Wer im Nidwaldner Kalender den Jahreskalender konsultiert, bekommt nicht nur Einblick in die tagesaktuellen Tierkreiszeichen, sondern auch in die Zusammenstellung «kirchlicher Feste und Anlässe in Nidwalden und Engelberg». So wird dort beispielsweise im Januar auf den 19. Das «Titularfest Schützenbruderschaft», im Februar auf den 2. die «Jahrzeit Josefsbruderschaft», auf den 23. das «Anniversarium Remigianerbruderschaft» und auf den 27. jenes der «Bruderschaft St. Sebastian und St. Maria (Unüberwindlicher Grosser Rat)» angekündigt. Das «Titularfest» ist dem Bruderschafts-Patron gewidmet, «Anniversarium» (Jahrzeit) bedeutet Gedächtnis für die Verstorbenen.
Ganz alt: UGR – seit 1567
Übers Jahr gesehen sind es bestimmt drei Dutzend Ansagen von kirchlichen Feierlichkeiten, wobei diese mit nicht programmierbarer Präsenz der «Brüder» (und auch Schwestern) bei der Beerdigung eines Mitgliedes ergänzt werden: Die Rituale sind unterschiedlich und reichen vom gemeinsamen Einzug zur Abschiedsfeier auf dem Friedhof mit brennenden Kerzen bis zum Fahnengruss. Die kirchlichen Jahrzeiten und der Totenkult sind nur die eine Hälfte der Bruderschaftsaktivitäten, die andere ist durchaus irdisch. Die älteste, noch aktive Stanser Bruderschaft etwa, der Unüberwindliche Grosse Rat (UGR), verstand sich seit eh auch als Fasnachtsgesellschaft, die sich den Anschein eines eigenen Reiches gab und so die tatsächlich Mächtigen im Staat verulkte. Markus Näpflin, der den Stanser Bruderschaften 2006 eine historische Untersuchung widmete, wertete die Organisation als «elitäre Vereinigung, bei welcher der religiöse Aspekt eine eher untergeordnete Rolle spielte». Darin verbirgt sich der Hinweis, dass das Religiöse im 17./18. Jahrhundert, ja gar bis ins 20. Jahrhundert hinein als Rechtfertigung dafür diente, sich überhaupt organisieren zu dürfen. Denn nichts fürchteten kirchliche und weltliche Obrigkeiten des «Ancien Régime» mehr als die Emanzipation ihrer Schäfchen!
Die Macht mixt mit
Der UGR hatte es etwas leichter als andere, weil sich in ihm vor allem «Gewichtige» zusammenfanden: Akademiker, Amtsleute, Offiziere, Geistliche. Einem rigiden Kontrollregime wurde beispielsweise die Xaverianer-Bruderschaft unterworfen, die im Jahre 1747 gegründet wurde und in ihren Reihen vor allem Schreiner und Schlosser versammelte. Ihr Zweck, sich nach dem Vorbild der Zünfte in den Städten auch berufsständisch zu betätigen, liess bei der Obrigkeit die Alarmglocken läuten, denn Handwerker-Zünfte waren es, die in den Städten wie Zürich, Basel und Schaffhausen die Macht an sich gebracht hatten. So genehmigte der Nidwaldner Landrat zwar die Statuten der neuen Gesellschaft, verfügte aber, dass an ihren Versammlungen jeweils zwei Repräsentanten der Regierung teilnehmen, die «zu allen Zeiten … den Vorrang vor denen Zunftmeisteren» haben. Die staatliche Macht mixte also ebenso mit wie die religiös-katholische!
Einbruch der Bestimmungsgewalt
Älteste Bruderschaft mit zünftiger Ausrichtung sind die Crispinianer. Unter dem Patronat der Märtyrer Crispin und Crispinian schlossen sich bereits um 1598 die Schuhmacher und Schneider zusammen, später stiessen auch noch die Sattler und Gerber dazu. Knapp achtzig Jahre darnach bildete sich die Josefsbruderschaft, der vor allem die Müller und Bäcker angehörten. Die in den Zünften organisierten Meister regelten die Anstellungsverhältnisse der Gesellen, verboten sich deren gegenseitige Abwerbung und strukturierten die Lehrverhältnisse. Da sich die Berufskreise der einzelnen Zünfte im Verlaufe der Geschichte erweiterten, konnten die gewerblich motivierten Bruderschaften durchaus in Streit darüber geraten, wer nun zur einzelnen Profession das Sagen habe. Diesbezüglich eine schmerzliche Änderung brachte 1848 die erste eidgenössische Bundesverfassung, indem sie allen Schweizern überall im Land die Freiheit zur Niederlassung und in der Folge die Handels- und Gewerbefreiheit zusprach. Nidwalden fügte sich dem mit dem Verbot des Zunftzwanges im Jahre 1863.
Feiern und Festen
Eine Zeitlang waren die zünftigen Bruderschaften jetzt etwas orientierungslos, besannen sich dann aber auf ihre anderen Zwecke, den religiösen, den sozialen und den gesellschaftlich-vergnüglichen. So öffentlich-demonstrativ, wie dies die Älperbruderschaft (gegründet 1778) mit der grossen Chilbi am dritten Oktober-Sonntag pflegt, so zurückhaltend-privat verhalten sich die andern. Der UGR hält zwar «Reichskongresse», «Reichsfeste» und sogar einen «Reichsfrauenkongress», das Maximum aber an Öffentlichkeit ist: Über dem Eingang zum «Reichslokal» weht die «Reichsfahne» …
Die Xaverianer haben sich 1863 zum «Arbeiterverein von Stans» umbenannt und konzentrieren sich, seit 1974 formell wieder als «Zunft», neben dem Kirchlich-Rituellen auf das Zunftfest zur Fasnachtszeit. Während beim UGR der Zutritt eher aus ideologischen Gründen limitiert ist, beschränkt sich die Zahl der «Arbeiter» aus praktischen: Die Einstellung der Zünfter-Wappen im Zunftschrank ist rein räumlich auf 200 begrenzt. Und wer drin ist, gehört da mit Wappen rein! Die mit der Bundesverfassung 1848 neu gewonnenen Freiheiten nutzend, wollte sich die Frohsinngesellschaft (gegründet 1851) gar nicht mehr auf das Bruderschaftliche einlassen. Dafür engagierte sie sich über Fasnächtliches hinaus für eine Krankenkasse, wie sie sich ähnlich der Bruderschaften um ihre invaliden und kranken Mitglieder sorgte. Das heute noch zu Beginn des Jahres gehaltene kirchliche Gedächtnis ist der Stiftung ihres einstigen Sekretärs Jost Scherer geschuldet.
Ordnung in der «Konkurrenz»
Crispinianer, Remigianer (1661), Josefsbrüder (1676), Niklausianer (1806) – sie alle sind weitere Bruderschaften, die sich heute ausschliesslich bei ihren Anniversarien und bei Begräbnissen ihrer Mitglieder zeigen. Da Mehrfachmitgliedschaften möglich sind, ist für die Remigianer klar: «Ist ein Mitglied mehreren Bruderschaften einverleibt, so hat es sich bei einem Begräbnis bei den Bruderschaftsmitgliedern des heiligen Remigius einzureihen» – immerhin ist er der Landespatron!
Hinweise:
– Der UGR und die Älper unterhalten Websites: ugr.ch bzw. aelper.ch
– Literatur: Markus Näpflin, Frömmigkeitspraxis in Nidwalden zwischen 1570 und 1800, eine Untersuchung der Kreuzgänge und Stanser Bruderschaften, Lizentiatsarbeit Uni Bern 2006/07